Chronische Schmerzen und Osteopathie

19.09.23
60 Prozent der deutschen Bevölkerung an Schmerzen
Laut einer Statista-Studie vom Jahr 2021 leiden 60 Prozent der deutschen Bevölkerung an Schmerzen. Frauen werden dabei meist von Kopfschmerzen geplagt. Foto: Viorel Kurnosov – stock.adobe.com

60 Prozent der Menschen litten laut einer Statista-Studie im Jahr 2021 in den letzten zwölf Monaten an Schmerzen – mehr als 12 Millionen aller Deutschen an langanhaltenden chronischen Schmerzen. Frauen werden meist von Kopfschmerzen geplagt, während bei Männern der Rückenschmerz dominiert.

Was ist Schmerz?

Die „International Association for the Study of Pain “(IASP) definiert Schmerz wie folgt: „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“

Jeder Mensch empfindet Schmerz unterschiedlich stark, abhängig von verschiedenen Faktoren, wie z.B:

  • der in der Vergangenheit gemachten Erfahrung,
  • der Erwartungshaltung gegenüber Schmerz,
  • der sozialen Situation oder
  • dem aktuellen emotionalen Befinden.

Die Dauer von Schmerz kann unterschiedlich sein. Akuter Schmerz hält so lange an, bis das verletzte Gewebe ganz verheilt ist. Das ist meist nach etwa sechs Wochen der Fall. Dauert der Schmerz auch danach noch an, spricht man von chronischem Schmerz.

„Etwa drei Viertel meiner Patientinnen und Patienten kamen in meine Praxis aufgrund chronischer Rückenschmerzen“, berichtet BVO-Mitglied Michael Weber. Schmerzen, für die keine medizinische Ursache mehr zu finden ist.

Wie werden Schmerzen chronisch?

„Nehmen wir das Beispiel Rückenschmerzen. Oft ist da nichts mehr zu finden, aber es tut trotzdem weh. Obwohl eine Struktur fast immer nach sechs Wochen komplett verheilt ist, bleibt der Schmerz“, erklärt Michael Weber, der seit knapp 15 Jahren in eigener Praxis als Faszien- und Physiotherapeut mit dem Schwerpunkt Osteopathie arbeitet. „Dann rutschen wir in den chronischen Schmerz, ein Schmerz, der über längeren Zeitraum wahrgenommen wird.“

Wenn das geschieht, haben Schmerzen ihre Warnfunktion, ihre Bestimmung verloren. Sie quälen den Menschen, lassen ihn leiden. Das kann viele Ursachen haben, wie z.B. die Psyche. Oder Nervenzellen werden dauerhaft gereizt, wodurch sich Rückenmark und Teile des Gehirns verändern. Das fein justierte System des Körpers gerät durcheinander, wird gestört.

Anhaltender Schmerz befeuert die psychische Belastung und die Angst vor dem Schmerz. Daraus folgt Depression und/oder Stress. Michael Weber erklärt das anhand des berühmten Beispiels vom Säbelzahn-Tiger: „Um seinem Angriff lebend zu entkommen, war es notwendig blitzschnell zu reagieren. In solch lebensbedrohlichen Situationen löst das Gehirn die Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin und Cortisol aus. Alle nicht lebensnotwendigen Körperfunktionen werden auf das Minimum heruntergefahren, um alle Kraft dem Tiger entgegenzusetzen.“

Und weiter sagt er: „In Zeiten unserer Vorfahren hat sich diese lebensbedrohliche Situation schnell wieder gelegt: Entweder war der Tiger besiegt oder der Mensch. Die Stresshormone werden nicht mehr ausgeschüttet, der Körper funktioniert wieder normal. Heutzutage aber lösen sich Situationen, vor denen wir Angst haben, leider nicht mehr so schnell auf.“

Der Auslöser für Stress habe sich verändert. Da sei der Druck, der auf Menschen laste: Der Druck, Erwartungen des Arbeitgebers zu erfüllen. Oder der Druck der Gesellschaft – schlank, fit und gesund zu sein. Aber auch die Erwartung an sich selbst: Ein toller Vater oder Mutter zu sein, gleichzeitig berufstätig und ein guter Partner/eine gute Partnerin zu sein.

„Dieser Druck wird von unserem Gehirn als eine anhaltende Bedrohung empfunden: Wir sind im Dauerstress. Der Körper wird unaufhörlich mit dem giftigen Stress-Hormon-Cocktail geflutet“, erklärt er. „Das erhöht unter anderem die Wahrnehmung von Schmerz. Er wird leichter wahrgenommen. Auch, wenn kein spezieller Reiz da ist. Dann nämlich bedient sich das Gehirn der Erinnerung an einen Schmerz und das „Schmerzgedächtnis“ ist entstanden.“

Was Osteopathie bei chronischen Schmerzen leisten kann

„Die Person ist eine Einheit von Körper, Geist und Seele. Struktur und Funktion beeinflussen sich gegenseitig.“ Andrew Taylor Still, Begründer der Osteopathie, 1914

„Das Prinzip von A.T. Still können wir Osteopathen dem Schmerzgedächtnis entgegensetzen“, sagt Weber. „Unser Gehirn ist ein fauler Kumpan. Es bildet Abkürzungen, wo es nur kann. Wird eine Struktur verletzt, sendet es zunächst den Alarm „Schmerz“. Während das Gewebe heilt, nimmt der Schmerzalarm ab. Doch manchmal kommt es vor, dass unser Gehirn die verletzte Struktur als Erinnerung abspeichert. Auf diese Weise erspart es sich, sich ständig darüber zu erkundigen, inwieweit die Heilung der Struktur fortgeschritten ist. Es schickt einfach unentwegt den Schmerzalarm. Wie eine Vinylplatte, die „hängen geblieben“ ist, oder eine Software, die sich „aufgehängt“ hat. Das ist das Schmerzgedächtnis.“

Daher weiß Michael Weber: „Es ist wichtig, Schmerzen zu behandeln, wenn sie entstehen und nicht zu lange damit zu warten.“

Ein Schmerzgedächtnis ist eine Erinnerung, und die kann nicht gelöscht werden. Doch sie kann überschrieben werden. Weber versucht das mit osteopathischen Techniken zu erreichen, die er mit Neurocoaching verbindet. „Die Osteopathie ist ein herrliches Werkzeug, um dem Körper Veränderung anzubieten.“ Er möchte die Menschen von chronischen Schmerzen befreien. Dazu bearbeitet er die betroffenen Strukturen mit seinen Händen und verändert so die Information, die an das Gehirn gesendet wird. Durch schmerzfreie Mikrobewegungen holt er die Menschen zurück in die Mobilität.

Selbst etwas gegen Schmerzen tun

Osteopathie bietet dem Körper Veränderung an
Die Osteopathie bietet dem Körper Veränderung an – z.B. bei chronischen Rückenschmerzen – und wirkt so dem Schmerzgedächtnis entgegen. Foto: BVO

„Ich habe nur meine beiden Hände. Dem Patienten oder der Patientin sollte verständlich gemacht werden, dass sein Körper in seiner eigenen Verantwortung steht“, sagt Michael Weber. Um chronische Schmerzen selbst zu behandeln, und dem Schmerzgedächtnis Paroli zu bieten, hat er ein Werkzeug entwickelt: die Skeleta©-Methode. Sie setzt sich aus zwei Komponenten zusammen:

  1. Der „Osteopathie zum Selbermachen“ und
  2. dem Neurocoaching.

Durch Mikrobewegungen, die für den Patienten schmerzfrei sind, werden veränderte Impulse an das Gehirn gesandt: Bewegung = schmerzfrei.

Das eigene Gehirn beeinflussen

Die zweite Komponente der „Skeleta©-Methode“ ist das Neurocoaching. Michael Webers Mutter Nina Olsson hat sich dazu intensiv mit den Neurowissenschaften auseinandergesetzt. Sie ist ausgebildete Neurocoachin und Mentalitätstrainerin. Ihre Expertise ist die zweite Säule der Skelata©-Methode, die sich Weber bei der Behandlung seiner Patienten zunutze macht.

„Bei Schmerzen ist das die Stellschraube, an der sich drehen lässt“, sagt er. „Wenn es um chronische Schmerzzustände geht, kann der Patient die Netzwerke seines Gehirns so trainieren, dass er Schmerzen weniger wahrnimmt. Er kann bewusst eingreifen und in bestimmten Situationen sagen „Stopp! Ich begebe mich schon wieder in die Gedankenspirale: Ich kann das nicht – das ist noch nie gegangen – das schaffe ich nie“. Er ändert seine Denkweise und die Ausschüttung von Stresshormonen wird verhindert.“

Schmerzen können überall im Körper auftauchen
Schmerzen können überall im Körper auftauchen – und sich zu chronischen Schmerzen entwickeln. Mit seiner Methode setzt BVO-Mitglied Michael Weber beim Schmerzgedächtnis an und kann so seine Patienten unterstützen. Foto: Kaspars Grinvalds – stock.adobe.com

Und das ist noch nicht alles! Michael Weber bringt seinen Patienten bei, dem toxischen Hormonpärchen Adrenalin und Cortisol die „Glückshormone“ Serotonin und Dopamin entgegenzusetzen. Diese beiden neutralisieren die Stresshormone. „Wenn die Patienten es schaffen, diese Methode als Angriffspunkt gegen den Schmerz anzunehmen, haben sie gewonnen. Garantiert.“

Die Patienten entkommen so der Hilflosigkeit, der Ohnmacht und der Opferrolle. Sie kommen zurück zur Selbstbestimmung, indem sie selbst die Macht über den eigenen Körper und den Schmerz übernehmen.“

Weitere Werkzeuge, um Schmerzen zu lindern

  • Nerven stimulieren und so Schmerzinformationen blockieren.
  • Entspannungstechniken, wie z.B. autogenes Training 
  • Muskelentspannung nach Jacobsen
  • Biofeedback
  • Verschiedene Therapien, wie Verhaltenstherapie, Psychotherapie, Physiotherapie, Krankengymnastik oder die Schmerztherapie. Letztere arbeitet ganzheitlich und multimodal.
6 Tipps zur Schmerzbekämpfung
BVO-Mitglied Michael Weber gibt 6 Tipps zur Schmerzbekämpfung. Foto: magele-picture – stock.adobe.com

Tipps zur chronischen Schmerzbekämpfung von Michael Weber

1. Bewegung

Bewegen Sie sich regelmäßig. Unser Körper ist keine Rumsitzmaschine. Sie müssen nicht Hanteln durch die Gegend schmeißen, aber die Muskulatur muss gekräftigt werden. Sie sollten bestimmte Kräftigungs- und Dehnübungen machen und sich regelmäßig bewegen.

2. Ernährung

Beobachten Sie Ihre Ernährung und ändern Sie diese ggf. ein wenig. Sie haben es schon unzählige Male gehört – und dennoch: Ernähren Sie sich ausgewogen. Mit wenig Zucker, wenig tierischem Eiweiß und vermeiden Sie Gluten. Ersetzen Sie das mit viel eiweißhaltigem Gemüse.

3. Von Trends Abstand nehmen

Halten Sie sich fern von Social-Media-Ideen zu Lifestyle, Diäten oder Sportarten. Sie entsprechen selten der Realität und sind für Leute, die im normalen Leben unterwegs sind, nicht zu erreichen.

4. Sich vom Druck der Gesellschaft frei machen

Wie wir zu sein haben und was wir zu tun haben, wird uns oft von der Gesellschaft vorgegaukelt. Schrauben Sie da etwas zurück. Konzentrieren Sie sich auf sich selbst und weniger auf das, was die anderen von Ihnen wollen.

5. Gewohnheiten verändern

Manche Ihrer Gewohnheiten haben dazu geführt, dass es Ihnen jetzt nicht mehr gut geht. Können Sie diese Gewohnheiten in eine andere Richtung steuern? Machen Sie kleine Schritte der Veränderung.

6. Kombination aus Essen, Bewegung und Gedanken

Wir Menschen halten uns nicht mehr „artgerecht“. Denken Sie an das Zusammenspiel von Essen, Bewegung und Gedanken. Vermeiden Sie Stress, bewegen Sie sich regelmäßig und essen Sie das Richtige. Wenn Sie das beachten, leben Sie so, wie Sie leben sollen.


Quellen:

https://www.schmerzgesellschaft.de/patienteninformationen/herausforderung-schmerz

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1295004/umfrage/umfrage-zur-praevalenz-von-schmerzen-in-deutschland-nach-art-des-schmerzes/

https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/a-1327-0282

https://www.spektrum.de/news/die-psychische-seite-chronischer-schmerzen/2061666

https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/schmerz/11432

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1295004/umfrage/umfrage-zur-praevalenz-von-schmerzen-in-deutschland-nach-art-des-schmerzes/

https://www.aok.de/bw-gesundnah/vorsorge-und-gesundheit/schmerzgedaechtnis-entstehung-und-behandlung

https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-09591-1_1

https://www.iasp-pain.org/

https://www.nih.gov/

Ji, R. R., Nackley, A., Huh, Y., Terrando, N., & Maixner, W. (2018). Neuroinflammation and central sensitization in chronic and widespread pain. *Anesthesiology*, 129(2), 343-366.

Moseley, G. L. (2003). A pain neuromatrix approach to patients with chronic pain.

Moseley, G. L. (2016). Reconceptualising pain according to modern pain science. *Physical Therapy Reviews*, 12(3), 169-178.

Ossipov, M. H., Dussor, G. O., & Porreca, F. (2010). Central modulation of pain. *The Journal of clinical investigation*, 120(11), 3779-3787.



Interessantes über den/die Autoren


Ronja Goj

Ronja Goj

Ronja Goj ist ausgebildete Journalistin. Ihr Studium des Ressortjournalismus absolvierte sie an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Ansbach. Seit 2014 ist sie als freie Journalistin für diverse Medien tätig. Seit 2017 arbeitet sie zusätzlich als Onlineredakteurin bei Pfarrbriefservice.de. Zudem ist sie als Dozentin tätig.

Michael Weber

Seit 14 Jahren ist der Physiotherapeut Michael Weber in eigener Praxis in der Münchner Innenstadt mit dem Schwerpunkt Osteopathie tätig.

Seine Patienten leiden zu einem großen Anteil an unspezifischen unteren Rückenschmerzen. Bei seiner Behandlungsweise nutzt er den Zusammenhang von osteopathischen Behandlungsweisen und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen über manche Funktionsweisen des Gehirns, die für die Wahrnehmung von Schmerz verantwortlich zeigen.

Mit seiner Mutter Nina Olsson (rechts im Bild), die als Neurocoach tätig ist und auch selbst betroffene Patientin war, hat er 2020 die Skelata©-Methode entwickelt: Ein online-Video-Kurs mit persönlicher Begleitung, speziell für Menschen mit unspezifischen unteren Rückenschmerzen, bei dem sich die Patienten selbst aus dem chronischen Schmerz-Kreislauf befreien können.

Ein wichtiger Teil der Skelata©-Methode ist die Vermittlung von Wissen über das Zusammenspiel von Körper und Gehirn und die Entstehung des sog. Schmerzgedächtnisses. Im praktischen Teil werden die Patienten sanft dazu herangeführt, die Erinnerung an den Schmerz so zu verändern, dass er weniger stark wahrgenommen wird.

Von Mutter und Sohn ist im TRIAS-Verlag das Buch Neurocoaching – wie der Körper den Schmerz vergisst – erschienen.

 

Kontakt:
https://skelata.de/