Erfahrungen mit der Traumasensiblen Osteopathie
14.06.23Die Osteopathie kann bei traumatischen Erlebnissen unterstützen. BVO-Mitglied Birgit Reiter hat sich in ihrer eigenen Praxis im südhessischen Idstein unter anderem auf Trauma-Patienten spezialisiert. Sie weiß: Die Symptome sind so unterschiedlich wie die Menschen. Wie sie zur Traumasensiblen Osteopathie gekommen ist und welche Erfahrungen sie dadurch schon erlangen durfte, erzählt Birgit Reiter im Interview.
Wie kamen Sie zur traumasensiblen Osteopathie?
Vor über zehn Jahren habe ich begonnen, mich mit Menschen, die unter einem Trauma leiden, zu beschäftigen. Ich habe mit beschnittenen Frauen und Mädchen in Kenia gearbeitet und immer wieder Menschen in schweren Krisen oder kurz vor dem Tod begleitet.
Nach und nach rückte in der Forschung das Thema „Trauma“ mehr in den Fokus und so bekam meine Tätigkeit einen stabileren wissenschaftlichen Hintergrund.
Können Sie uns dazu mehr verraten?
Forschende haben ja bereits herausgefunden, dass Traumata, die zum Beispiel durch Kriege ausgelöst wurden, auch noch Auswirkungen auf die nächste Generation haben kann. Dieser Hochstress der Elterngeneration kann in den nachfolgenden Generationen in den Genen nachgewiesen werden. Ein Artikel des Deutschlandfunks fasst das ganz gut zusammenfasst. Man nennt diese Art auch transgenerationale Traumatisierung.
Diesbezüglich sind auch die Forschungen von Prof. Dr. Isabelle Mansuy von der Universität Zürich interessant: Sie fand anhand von Mäusen heraus, dass ein frühes Trauma den Stoffwechsel selbst über Generationen hinweg beeinflussen kann.
Durch diese Studien und Beobachtungen kann man heute Phänomene erklären, die vor 10 Jahren noch als esoterische Spinnereien abgetan wurden. Ich erinnere mich an eine Patientin, die vollkommen außerhalb ihrer Stresstoleranz landete, wenn sie Sirenen hörte. Sie war nie im Krieg, ihre Mutter wuchs allerdings in Berlin auf als die Stadt bombardiert wurde. Wir haben mit den Körperreaktionen gearbeitet und versucht diese ins Nervensystem zu integrieren. Das war damals auch für mich das erste Mal, dass ich mit einem Körpergedächtnis arbeitete, das vermutlich transgenerational vererbt wurde.
Was unterscheidet traumasensible Osteopathie von klassischer?
Wenn bei meinen Patientinnen und Patienten Traumathemen mitschwingen, dann rückt die Behandlung des vegetativen Nervensystems noch mehr in den Fokus, als bei der klassischen osteopathischen Behandlung. Der Körper von traumatisierten Menschen kann für mich erstmal wie ein Minenfeld wirken.
Welche Rolle spielt das vegetative Nervensystem (VNS) bei der Behandlung?
Das VNS ist bei einem Trauma stark betroffen und dafür verantwortlich, dass sich das Trauma in verschiedenen Körperreaktionen und -bereichen widerspiegelt. Es erfordert ein sehr achtsames Vorgehen, um die Patientinnen und Patienten im Hier und Jetzt zu verankern.
In welchem Zusammenhang stehen Trauma und VNS?
Ein Trauma entsteht immer dann, wenn das Erlebte, das für das jeweilige Nervensystem Verarbeitbare, übersteigt. Das Ereignis wird dann unverarbeitet in unserem Körper abgelegt, vor allem im Nervensystem.
Und wo setzt die Osteopathie dann an?
Traumasensible, osteopathische Arbeit kann eine tiefgreifende Unterstützung auf körperlicher, emotionaler und mentaler Ebene darstellen. Ausgebildete Osteopathen können Bereiche im Körper der Patientinnen und Patienten aufspüren und helfen, die gehaltene Trauma-Energie abzubauen und in das Nervensystem neu zu integrieren. Schlüsselaspekte sind dabei die Atmung, die vegetative Reaktionen der Patientinnen und Patienten sowie plötzlich angespannte Körperareale während der osteopathischen Arbeit. Oft sind das die Finger, Zehen oder Füße.
Traumasensible Osteopathie ist Arbeit für alle Beteiligten. Es lohnt sich aber so sehr, diese Arbeit anzugehen und das Trauma aufzulösen!
Können Sie bitte ein Beispiel nennen?
Ich erinnere mich an eine Patientin, die an einem schweren Verkehrsunfall beteiligt war. Sie war lange eingeklemmt. Die zu erwartende Ohnmacht trat nicht ein und so erlebte die Patientin die quälende Wartezeit in überwältigender Intensität. In dieser Zeit litt sie fürchterliche Schmerzen im Bein, das verdreht und stark blutend einklemmt war.
Diese Überwältigung hat ein Trauma verursacht.
Bei der Anamnese berichtete die Patientin, dass sie das Bein als nicht mehr zum restlichen Körper dazu gehörend empfand. Sie empfand es als „unnatürlich abstehend“, hatte wenig Kraft im Bein und konnte ihren Beruf als OP-Assistentin nicht mehr ausüben. Zudem konnte sie nachts nicht mehr durchschlafen, litt unter Ängsten und Reizbarkeit.
Das Nervensystem war überlastet, ohne jegliche Balance. Die Patientin wurde psychologisch unterstützt, was für den Beginn der osteopathischen Arbeit eine wichtige Grundvoraussetzung darstellte.
Wie sah die Behandlung der Patientin bei Ihnen aus?
Meine Arbeit lag auf der Reorganisation der Mittellinie des Beins und der Integration des Beines in das Körperschema. Ich habe hier also sogenannte Kraftlinien befundet und ausgerichtet – in diesem Fall jene, die sich auf das Zusammenspiel von Fuß, Knie und Hüfte auswirken.
Es zeigte sich ein Wechselspiel zwischen dem osteopathischen Bearbeiten des Beins und dem Stoppen der Atmung sowie der Schweißbildung bei der Patientin. Die Behandlungen waren für sie sehr anstrengend, weil Gefühle von Überwältigung und Ohnmacht wieder spürbar wurden.
Im Laufe weniger Sitzungen empfand die Patientin das Bein wieder als zugehörig. Zudem erhielt sie Übungen für zuhause, um das Nervensystem auszubalancieren.
Wie schlug die Therapie bei Ihrer Patientin an?
Zunächst wurden die Schmerzen intensiver bzw. schlimmer, was in Anbetracht der Traumabehandlung häufig vorkommt – alles kommt ans Licht, nichts bleibt verborgen. Heute kann die Patientin ihren Beruf wieder schmerzfrei ausüben.
Was macht die Trauma-Behandlung so einzigartig?
Die Arbeit am Körper ist für Patientinnen und Patienten fordernd und kostet Kraft. Auch im Nachgang kann die Behandlung nachwirken, es braucht Zeit zum Integrieren. Traumaarbeit ist Prozessarbeit. Das bedeutet, dass die Klienten das Tempo bestimmen. Ich orientiere mich an dem Grundsatz, dass sich nur das zeigen wird, was im Inneren genug gereift ist, um ins Bewusstsein zu gelangen und dort ausgehalten werden kann.
Was ist bei Ihrer Arbeit mit Trauma-Patienten besonders wichtig?
Die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche osteopathische Arbeit ist eine stabile Beziehung zwischen Osteopath bzw. Osteopathin und Patient bzw. Patientin, die transparent ist und in der die Regeln klar formuliert werden.
Ein Trauma zerreißt Verbundenheit und Beziehung. Betroffenen einen sicheren Rahmen und Raum anzubieten, ist die Grundvoraussetzung, um Zugang zum Körpersystem zu erhalten. Das kann schon damit beginnen, dass Menschen mit Traumata besser auf Veränderungen vorbereitet werden müssen.
Und sei es nur, wenn eine Renovierung ansteht: Es ist mir passiert, dass eine Patientin nach der Renovierung meines Raumes ihr Zutrauen und ihre Verbundenheit zu mir neu entdecken musste. Durch bestimmte Übungen konnte sie sich langsam wieder entspannen. Heute kündige ich Malerarbeiten und Ähnliches vorher bei meinen Patienten und Patientinnen an.
Wie wichtig ist auch ein psychologisches Auffangen bei Trauma-Patienten?
Sinnvoll ist es als Traumapatient bzw. -patientin, ein Team aus Psychotherapeuten, Ärzten sowie Osteopathen oder Körpertherapeuten um sich zu haben. Die Patienten und Patientinnen müssen eine Balance finden zwischen „gut genug versorgt“ und „nicht überfordert werden“.
Ist es die Regel, dass Patienten und Patientinnen ein solches Team zur Verfügung steht?
Viele meiner Patienten und Patientinnen haben mehrere psychotherapeutische Methoden ausprobiert. Auch an Diagnosen mangelt es häufig nicht: Depression, Angststörung, Burn-out, bis hin zu diversen Persönlichkeitsstörungen. Die wenigsten haben bereits eine Traumatherapie oder eine Körpertherapie hinter sich. Ich arbeite bei traumatisierten Patienten und Patientinnen aber am effektivsten und sichersten, wenn eine psychotherapeutische Behandlung gleichzeitig läuft oder diese noch nicht lange her ist.
Traumata sind oft tabubehaftet. Wie nähert man sich einem Patienten und seiner Geschichte?
Betroffenen fällt es oft schwer anzunehmen, dass sie traumatisiert sind. Mir kommen immer wieder Bagatellisierungen unter wie: „Ach, so schlimm war das nicht“, „Ich hab‘s ja überlebt“ oder „Ich wurde ja nicht vergewaltigt“. Dann ist es wichtig zu erklären, dass auch emotionale Vernachlässigung, Bindungsstörungen jeder Art und alles, was das Nervensystem kurz- oder langfristig überfordert, potenziell traumatisch sein können.
In meiner Wahrnehmung bricht das Tabu aber gesellschaftlich zunehmend auf. Das Wissen über Trauma erlebt gerade einen enormen Schub in der Wissenschaft. Ich bin mir sicher, dass in Zukunft das Thema mehr Aufmerksamkeit und Verständnis bekommt.
Warum sind Traumafolgeschmerzen oft schwer zu erkennen?
Sie werden oft nicht erkannt, weil der Ausdruck des Körpers ganz unterschiedlich sein kann. Symptome können nicht klar zugeordnet werden. Zum Beispiel können chronische Schmerzsymptome traumabedingt sein – daran wird aber nur selten gedacht.
Wichtig zu wissen ist, dass ein schwerwiegendes Ereignis im Gehirn als auch im Körper vollkommen anders verarbeitet wird.
Meines Erachtens, ist der Körper das fehlende Glied bei der Behandlung von Traumata. Ein übererregtes Alarmsystem (limbisches System) lässt sich nicht mit Worten dazu überreden, weniger Angst zu haben. Ängste sind oft irrational, das bedeutet, dass die Ratio nur bedingt der Schlüssel sein kann. „Du brauchst keine Angst vor dem Fahrstuhl fahren/dem Fliegen/der Spinne zu haben, dir passiert doch nichts“, sind gut gemeinte Ratschläge, jedoch für Betroffene nicht hilfreich. Die Sprache, die das limbische System hingegen gut versteht, ist die Körperarbeit. Das zeigt sich im Aufkommen von Methoden wie „EMDR“ (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), „Klopfen“ und vielen mehr. Bei diesen Methoden geht es um das Entkoppeln von automatischen, negativ empfundenen Abläufen im Nervensystem auf bestimmte Reize und Erfahrungen.
Vielen Dank für das interessante Gespräch, Frau Reiter.
Interessantes über den/die Autoren
Birgit Reiter
Ihre Physiotherapie-Ausbildung hat Birgit Reiter an der Universitätsklinik Frankfurt, Stiftung Friedrichsheim, abgeschlossen und konnte dort im Fachbereich Pädiatrie (Kinderheilkunde) auch viel Erfahrung im Umgang mit und im Behandeln von Frühgeborenen, Neugeborenen und Kleinkindern sammeln.
Nach Ihrer Osteopathie-Ausbildung an der IAO, erlangte sie den universitären Abschluss „Master of Science“ in Österreich und hat 2008 ihre Heilpraktiker-Prüfung erfolgreich abgelegt. Ihr Wissen erweiterte sie u.a. mit zusätzlichen Ausbildungen im Bereich der Kinderosteopathie und der Biodynamischen Osteopathie.
Seit 2008 arbeitet Birgit Reiter in eigener Praxis. Zusätzlich war sie drei Jahre lang, neben der Praxistätigkeit, auch als Dozentin/Assistentin für die International Academy of Osteopathy an verschiedenen Standorten in Europa tätig.
Birgit Reiter, M.Sc. Ost., ist staatlich anerkannte Osteopathin, Heilpraktikerin und staatlich anerkannte Physiotherapeutin. Ihr wichtigstes Wirkungsfeld zeigt sich mit wachsender Berufserfahrung im Bereich der körperlichen und/oder seelischen Trauma-Arbeit.
Kontakt:
Anja Reinhardt
Seit 2016 führt Anja Reinhardt eine eigene PR- und Contentagentur im Hotel-, Tourismus- und Gesundheitsbereich. Schon während ihres Studiums der Kommunikationswissenschaften mit Schwerpunkt Public Relations hat sie erste Erfahrungen im PR-Bereich gesammelt. Danach war sie u.a. bei der Bayern Tourismus Marketing GmbH und als stv. Geschäftsführerin des Oberbayern München Tourismus e.V. tätig. Online-Texte, PR-Konzepte und Social Media sind ihr täglich Brot – inkl. einem besonderen „G’spür für Geschichten“.
Kontakt:
presse@bv-osteopathie.de