Kraniosakrale Osteopathie
Zusammen mit der parietalen und viszeralen Osteopathie bildet die kraniosakrale (auch „craniosacrale“) Osteopathie eine der drei Säulen der Osteopathie.
Osteopathie von Kopf bis Fuß
Die kraniosakrale Behandlungsmethode wurde Anfang der 1930er Jahre von William Garner Sutherland (1873 – 1954) entwickelt. Noch als Student an der Osteopathieschule in Kirksville, USA, hatte er einen zerlegten Schädel betrachtet. Dabei erregten die eigentümlich gebildeten Verbindungsflächen zwischen dem großen Keilbeinflügel und der Schläfenbeinschuppe seine Aufmerksamkeit. Diese Verbindung erschien ihm gekantet, wie die Kiemen eines Fisches. Sie schienen auf eine gelenkige Beweglichkeit eines Atemmechanismus hinzuweisen. Obwohl alle ihm bekannten anatomischen Textbücher lehrten, dass die Schädelnähte verknöchern und ein unbewegliches, statisches Ganzes darstellen, ließ ihn der Gedanke um die Möglichkeit von Bewegungen im Schädel nicht wieder los.
Osteopathisches Herantasten an neue Behandlungsmethode
Die Frage nach dem Sinn der unterschiedlichen Anordnung der Schädelnähte ließ Sutherland jedes kleinste anatomische Detail der Schädelknochen studieren. Er kam zu dem Schluss, dass die Gelenkflächen der Schädelknochen eine Konstruktion darstellen, die nur den Zweck haben kann, Bewegung zu ermöglichen. Er fand heraus, dass die Schädelknochen durch Membranen im Schädel miteinander verbunden sind und ihre Bewegung durch diese Membranen koordiniert werden. Deshalb bezeichnete er sie als „reziproke Spannungsmembran“.
Auch das Kreuzbein ist durch die Dura (äußerste Hirnhaut) im Rückenmarkskanal mit den intrakranialen Membranen und so mit den Schädelknochen verbunden. Immer wieder palpierte Sutherland seinen Schädel und die Köpfe seiner Patienten und begann etwas zu erspüren, das er sich nicht erklären konnte: Der Schädel bewegte sich tatsächlich – und zwar unabhängig vom Herz- und Atemrhythmus. Nach weiterem unermüdlichem „Fühlen“ dieser feinsten Bewegungen kam er zu dem Schluss, die Eigenbewegung des Gehirns, die regelmäßigen, rhythmischen Fluktuationen der Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit, die Beweglichkeit der duralen Hirn- und Rückenmarkshäute, der Schädelknochen sowie des Kreuzbeins seien die Grundlage dieser Bewegung.
Osteopathische Prinzipien auf den Schädel anwenden
Immer aufs Neue untersuchte Sutherland über 20 Jahre hinweg mit seinen „fühlenden, sehenden, denkenden (…) Fingern“ die Strukturen, kleinste Bewegungsmöglichkeiten und feinste Bewegungen im und am Schädel sowie vorhandene Restriktionen und ihre Behandlungsmöglichkeiten, bis er mit seinen Ergebnissen an die Öffentlichkeit trat. Allmählich entwickelte sich aus seinen Untersuchungen und Experimenten eine neue Behandlungsmöglichkeit: die kraniosakrale Osteopathie.
Sutherlands größter Verdienst war neben der konsequenten Anwendung der osteopathischen Prinzipien auf den Schädel, der bis dahin auch unter Osteopathen als unbewegliches Ganzes angesehen wurde, die Entdeckung eines Regulationssystems für den Gesamtorganismus, das sich durch eine rhythmische, langsame Bewegung am Schädel äußerte. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die fluiden Bestandteile des Körpers, insbesondere auf den Liquor cerebrospinalis und bemerkte, dass sich durch feinste Impulse auf die Fluida Fixationen fester Körperstrukturen zu lösen begannen.
Grundlagenwerk für kraniosakrale Osteopathen
Harold Ives Magoun (1898 – 1981), erster Präsident der amerikanischen Akademie der Osteopathie (1947) und ein Schüler Sutherlands, veröffentlichte 1951 das Buch „Osteopathy in the Cranial Field“, das seitdem als Grundlagenwerk für jeden kraniosakralen Osteopathen gilt. Im Jahr 1954, an seinem Sterbebett, verpflichtete Sutherland seinen Schüler Magoun dazu, die kraniale Osteopathie auch in Europa zu lehren.
Im Jahre 1964 unterrichteten Harold Magoun, Viola Frymann und Thomas Schooley in der „British School of Osteopathy“ in London die Grundlagen der kranialen Osteopathie. Als sie dort auf Ablehnung und Skepsis stießen, begannen sie mit der Unterstützung von Denis Brookes, einem englischen Osteopathen, noch im gleichen Jahr in Paris, neun Osteopathen und Ärzte in einem Zeitraum von vier Jahren in kranialer Osteopathie zu unterweisen. Eine Vielzahl von Veröffentlichungen erschien seitdem und eine zunehmende Zahl von Osteopathen und Wissenschaftlern hat die Forschung auf diesem Gebiet vorangetrieben und die Arbeiten von William G. Sutherland fortgeführt.